Auf den ersten Blick wirkt dieser finnische Kegellautsprecher wie ein hübsch gemachtes HiFi-Spielzeug. Aber Vorsicht: Hinter den putizgen Formen einer zu groß geratenen Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur steckt akustisches Kalkül. Die Gradient 1.4 ist eine der aufregendsten, klangstärksten und ja: attraktivsten Standboxen unterhalb 10.000 Euro.
Ein Leben im Schallfeld des Dipol: Gradient Labs Firmengründer Jorma Salmi hatte bei seinen Forschungen nicht nur den Lautsprecher allein, sondern auch immer den Bezug zum umgebenden Raum im Blick. Das führte ihn zwangsweise zum Dipol-Lautsprecher, mit dem man in gewissen Bereichen die Schallabstrahlung etwas besser in den Griff bekommt als mit den klassischen Direktstrahl-Systemen. Eines seiner ersten Werke, mit dem er weltweit für Furore sorgte, war ein Dipol-Subwoofer für den Quad ESL 63. Das Ding war echt hässlich, aber der einzige mir bekannte Subwoofer, der auch klanglich zum ESL 63 wirklich passte.
Der Dipol ließ den Akustiker nicht mehr los und ist auch heute, nachdem längst sein Sohn Atte Salmi das Ruder übernommen hat, so etwas wie der rote Faden bei den Finnen. Das aktuelle Flaggschiff namens Revolution (siehe auch Besuch bei Claus Bücher) arbeitet mit mehreren Dipol-Subwoofern pro Kanal. Doch es geht auch eine Nummer kleiner, günstiger und wohnraumfreundlicher.
Damit sind wir bei der Gradient 1.4. Man ahnt es vielleicht, sieht es aber nicht: doch auch dieser eigenwillige Kegel/Kugel-Lautsprecher ist ein raffinierter Dipol.
Das Konzept der Gradient 1.4
Im Zentrum des 1.4-Konzepts steht der Kugelkopf. Über die akustisch vorteilhafte Form der Kugel muss man keine vielen Worte machen: Im Inneren können sich nur schwerlich stehende Dröhnwellen aufschaukeln und außen, weil die Kugel keine Kanten hat, können auch keine Reflektionen entstehen. Auch für eine möglichst räumliche Wiedergabe ist die Kugel daher geradezu perfekt. Gradient lässt sich für die Gradient 1.4 eine Kunststoff-Kugel gießen, die aufgrund von Form und Stärke keinerlei Optimierungen mehr braucht.
Zugegeben: Der Kugelkopf der Gradient 1.4 ist nicht ganz rund: Vorn und hinten ist er abgeflacht, gerundete Gitter vollenden die Kugelform. Aber das hat natürlich seinen Sinn. Hinter dem vorderen Abdeck-Gitter sitzt ein Mittelhochton-Koax mit 18 cm Durchmesser und implementierter 25 mm Hochtonkalotte. Der Koax ist eine Entwicklung des norwegischen Lautsprecher-Spezialisten Seas, die von Gradient auf die eigenen Anforderungen hin optimiert wurde.
Koaxe gibt es ja mittlerweile recht viele. Kein Wunder: Gut gemacht kommen sie dem Ideal der zeitrichtigen Punktschallquelle sehr nah. Dennoch hat der Koax prinzipbedingt (der schwingende Konus der Tiefmitteltonmembran moduliert die Hochton-Schallwellen) durchaus Nachteile. Doch der Koax der Gradient 1.4 ist dicht an der Perfektion.
Die Einspannung seiner beschichteten Papiermembran ist recht hart. Man kann es ausprobieren, wenn man versucht, die Membran ein wenig nach hinten zu drücken. Da bewegt sich wenig. Hier greift eine Art mechanische Übersteuerungsbremse, die einen zu großen Hub verhindert. Das ist schlau gemacht: Je weniger stark der Konus schwingt, umso weniger wird die Hochtonabstrahlung moduliert, beziehungsweise verfälscht.
Ein geringer Hub verhindert aber gleichzeitig tiefe Bässe; für den Bereich unterhalb 200 Hertz ist deshalb der Subwoofer im Kegel zuständig. Auch hier vertraut Atte Salmi auf die Treiber aus dem Seas-Programm. Zu Recht: Der 22 cm Bass mit schimmernder Aluminium-Membran ist tausendfach bewährt und legt auch in der Gradient 1.4 ein überraschend potentes Bassfundament. Jedenfalls klingt die smarte Designbox nach deutlich mehr Volumen, als sie tatsächlich hat…
Das Gehäuse…
…besteht in weiten Teilen aus Kunststoff, welches durch eingefügte Holzbretter oder Holzringe verstärkt wird. Deshalb ist die Gradient 1.4 für einen Lautsprecher dieser Größe auch erfreulich leicht: Sie wiegt nämlich nur 15 Kilo pro Stück. Dass die Finnen hier Kunststoff wählen, liegt auf der Hand: Damit sind alle akustisch sinnvollen und optisch attraktiven Formen machbar. Allerdings wirkt die haptische Anmutung in einem Preisbereich, in dem durchaus schon gedrechselte oder gebogene Hölzer zu finden sind, nicht ganz so wertig…
Die Gradient 1.4 gibt es nur in den Ausführungen Schwarz oder Weiß. Wer meint, das sei ja gar nicht so viel Auswahl, kann sich hier in unserem kleinen digitalen Daumenkino eines Besseren belehren lassen:
Der kluge Dipol
Der Tieftöner sitzt auf der Unterseite und erreicht so eine 360° Abstrahlung. Aber hieß es nicht, die Gradient 1.4 sei ein Dipol? Also ein offener Lautsprecher, der nach vorn wie hinten gleichermaßen abstrahlt? Richtig. Doch weil das Dipol-Verhalten im Bass sehr aufwändig ist und in den oberen Mitten und den Höhen mehr Probleme als Vorteile bringt, beschränkt Atte Salmi die Dipol-Charakteristik auf etwas mehr als zwei Oktaven: nämlich den Bereich zwischen 200 – 1.000 Hertz. Das schafft er, indem er die hintere Wand der Kugel perforiert und mit einem festen Stoff bezieht. So entsteht ein effizienter, mechanischer Filter.
Wozu dieser Aufwand? Atte Salmi hat vor allem den Grundtonbereich im Blick. Wo viele andere Lautsprecher mit klassisch breiter Abstrahlung wegen der Schall-Reflektionen naher Wände im wichtigen Stimmbereich schnell mal etwas mulmig klingen, möchte er ein definiertes Abstrahlverhalten mit möglichst hoher Präzision.
Sein Hebel ist der Dipol. Diese Konstruktionen zeichnen sich ja nicht nur dadurch aus, dass sie die Schallsignale nach vorn UND nach hinten abstrahlen und somit oft freier und räumlicher klingen. Sondern auch, weil die Schallabstrahlung der Signale gegenphasig erfolgt und so die Schallabstrahlung eingeschnürt wird: Wenn die Membran nach vorn schnellt und Schalldruck aufbaut, entsteht auf der Membranrückseite gleichzeitig ein Schallunterdruck. Vor allem bei tieferen Frequenzen entstehen dadurch Auslöschungen, die man geschickt nutzen kann, um die Raumakustik besser in den Griff zu bekommen. Die Abstrahlung ähnelt von oben gesehen einer Acht, in deren “Taille” der Lautsprecher steht. Die spezielle Dipol-Konstruktion der Gradient 1.4 ähnelt im Bereich zwischen 200 – 1.000 Hertz von oben gesehen einer Niere.
Dass der Ansatz aufgeht, zeigt der (für einen Koax) überraschend lineare Frequenzgang, den wir im LowBeats Hörraum ermittelt haben: keine Spur von Auslöschungen im wichtigen Stimmbereich.
Praxis und Messlabor
Um die elektrischen Ansprüche eines Lautsprecher zu ergründen, lohnt ein Blick auf den Impedanz- und Phasengang (im Diagramm unten). Für beides gilt: Je linearer, desto besser kommt der angeschlossene Verstärker damit zurecht.
Unsere ersten Versuche mit Verstärkern der 1.000 Euro Klasse (Cambridge Audio CX81, Exposure 2010) waren durchaus überzeugend, aber es blieb das Gefühl: das geht noch besser. Also fuhren wir größere Kaliber auf.
Wie immer musste unser Dauerläufer Atoll IN 400 SE ran und entpuppte sich gleich als veritabler Kombinations-Tipp. Denn tatsächlich braucht die smarte Kegelbox eine Menge Leistung und ich hatte nie den Eindruck, die 2 x 300 Watt (Sinus an 4 Ohm) des Atoll wären hier zu viel des Guten. Im Gegenteil: Der kräftige, jederzeit gut kontrollierte Bass des Atoll harmonierte perfekt mit dem eher satten, nicht immer ganz knackigen Tieftonbereich der Gradient.
Und wenn man viele Watt in die Kegelbox schiebt, kommt erstaunlich viel Pegel dabei heraus. Mit dem großen Atoll ließ sich die Gradient zu fast livehaftigen Pegeln überreden. Alle Besucher, die in der Testphase vorbeikamen, waren jedenfalls baff erstaunt: Einen solchen Punch hätte der kleinen Designbox keiner zugetraut.
Ähnlich wie mit der zugeführten Leistung verfährt die Gradient 1.4 auch mit dem Platz: Sie möchte gern viel. In direkter Wandnähe wird viel Klangpotenzial verschenkt, denn der Bassbereich wurde für eine weitgehend freie Aufstellung konzipiert. Nah an der Wand dickt er auf und auch die atemberaubende Räumlichkeit der 1.4 kommt erst bei freier Aufstellung voll zur Geltung. Räume unterhalb 20 qm eignen sich deshalb nur bedingt.
Die Gradient 1.4 im Hörraum
Der erste Eindruck: ausgewogen. Ein ausreichend sattes und tiefes Bassfundament trifft auf einen hoch-agilen Mittelhochtonbereich. Für die Bewertung von Stimmen nehme ich immer gern eine Lesung des leider schon verstorbenen Wiglaf Droste. “Grönemeyer kann nicht tanzen” ist ein Highlight der Kleinkunst und von der CD auch klanglich durchaus anspruchsvoll. Auflösung, hohe Sprachverständlichkeit, Dynamik – die Gradient gibt die Atmosphäre der Lesung nahezu perfekt wieder.
Man kann sich den spöttelnden Droste förmlich an seinem Lesepult sitzend vorstellen: grollend, fuchtelnd und gekonnt Pausen setzend. Dieser mitreißende Erlebnischarakter ist aber nicht nur der hohen Transparenz der Gradient geschuldet, sondern auch ihrer fantastischen Raumdarstellung. Man bekommt mit ihr einen ziemlich guten Eindruck von der Raumgröße und vom Abstand zwischen Droste und seinem Publikum. Man ahnt auch, dass dieser sprachgewaltige Zyniker nicht ganz schlank war.
Die hohe Klarheit und Präzision in der Stimme führe ich auf die spezielle Abstrahl-Charakteristik der Gradient zurück. Tatsächlich hat die Finnin im unteren Stimm-Bereich etwas weniger Energie, dafür aber mehr Übersicht als die meisten vergleichbaren Lautsprecher am Markt. Mir persönlich gefällt das. Denn gerade im oberen Bass und Grundton klingen viele Lautsprecher etwas wolkig: unpräzise und einen Hauch mulmig. Das kann man der kleinen Gradient sicher nicht nachsagen…
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten wieder viel mit der Dynaudio Contour 20 gehört. Sie ist fraglos der bei LowBeats meistgehörte Lautsprecher und so etwas wie unsere Langzeit-Referenz. Mit einem angemessenen Ständer liegt auch sie im Preisbereich der Gradient; der Vergleich drängte sich daher auf.
Wie zu erwarten war, ist die Dynaudio im oberen Bass etwas kräftiger: Männerstimmen klingen etwas wärmer, Gitarren etwas vollmundiger. Aber auch etwas unpräziser als bei der Gradient. Bei der Auflösung im Mittelhochtonbereich, Gitarrenobertöne, subtile Anblasgeräusche beim Saxophon) agiert die Dynaudio etwas feiner und einen Hauch natürlicher.
Die Gradient wurde in diesem Vergleich dennoch nicht der zweite Sieger. Schon die Dynaudio begeistert ja mit einer stabilen und räumlich tiefen Abbildung. Doch die Gradient legt in allen Dimensionen noch einmal deutlich zu. Vor allem die Plastizität der Sänger oder Instrumente ist herausragend gut.
Und dann ist da noch dieser Bassbereich. Er ist nicht immer ganz sauber, aber herrlich tief und satt abgestimmt. Der quasi unsichtbare Tieftöner ermöglicht sehr viel höhere Pegel, als es der 18 cm Tieftöner der Dynaudio je erlauben würde. Er sorgt dafür, dass auch elektronische Musik à la Faithless, Felix Laband oder Yello zum mitreißenden Erlebnis werden. Nachdem ich den Lautstärke-Regler des Atoll immer noch ein Stückchen weiter nach rechts gedreht und schon fast bei der 15 Uhr war, gelang der Gradient, was ich ihr nie zugetraut hätte: überraschend kernige Basshiebe, die in die Magengrube fahren und wieder einmal deutlich machen, dass lautes Hören durchaus glücklich machen kann…
Die Gradient 1.4 ist ein Lautsprecher, mit dem man einfach gern Musik hört. Sie nervt an keiner Stelle, spielt gleichzeitig so mitreißend informativ wie ausgewogen und zudem noch pegelfest, dass man sich ihrem Sog nur schwerlich entziehen kann.
Fazit
Man neigt dazu, diesen “Design-Lautsprecher” zu unterschätzen. Das adrette Aussehen und die geringe Größe lassen zunächst nicht erahnen, wie viele audiophile Qualitäten und welche Pegelfähigkeiten in ihm stecken.
Doch er hat von allem im Überfluss. Eine wunderbar natürlich harmonische Abstimmung, die trotzdem mit viel Gripp und präziser Detail-Analyse gute Aufnahmen zu einer spannenden Erlebnisreise werden lassen. Es ist ein Genuss, mit dieser finnischen Klangskulptur zu hören. Und man kann es sehr lange, nichts strengt an.
Gemessen am klanglichen Ergebnis ist die Gradient 1.4 günstig. Doch sie hat verdeckte Kosten im Beipack: Der Verstärker sollte potent und gut sein; so etwa gibt es nicht für kleines Geld. Und man sollte der hübschen Gradient ausreichend Platz einräumen. Aber dann: ein Traum.
KlangPraxisVerarbeitungGesamt |
Die Bewertung bezieht sich immer auf die jeweilige Preisklasse. |
| Breitbandig satt-natürlicher Klangcharakter |
| Beeindruckende 3D-Abbildung |
| Außergewöhnliche, attraktive Form |
| Braucht viel Platz und recht viel Leistung |
Vertrieb:
Adagio Music
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www.adagio-music.de
Preis (Hersteller-Empfehlung):
Gradient 1.4: 5.750 Euro
Mit- und Gegenspieler:
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