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Zeit ist Klang (Diagramm American Physical Society)
Diagramm: Oppenheim und Magnasco (Diagramm: 2013 American Physical Society)

Zeit ist Klang

Hörst du noch oder klingt es schon? Der Zufall schreibt noch immer die besten Geschichten – oder: Mitunter sorgt sogar Facebook für echte Aha-Erlebnisse. So stieß ich gestern auf einen Post von Julian David, der in Köln ein Tonstudio betreibt und zudem als Marketing-Berater für einige Hersteller aus dem Pro-Audio-Bereich tätig ist – unter anderem für den Berliner Hersteller Mutec. In seinem Post ging es um einen Beitrag zum Thema „Zeit ist Klang“ im Forum phys.org, der von einer äußerst spannenden, wissenschaftlichen Studie zum Thema „Tonanalyse des menschlichen Gehörs“ (Englischer Beitrag) handelt. Durchgeführt wurde die Studie von Jacob Oppenheim und Marcelo Magnasco an der Rockefeller University in New York.

Grob vereinfacht stand bei dieser Arbeit im Mittelpunkt, welche Faktoren das Gehör zur Analyse von Tönen heranzieht – aber auch, wie genau diese erfolgt. Dazu spielte man ausgewählten Testpersonen Tonpaare mit einem zusätzlichen, deutlich höheren Marker-Ton vor: Die Aufgabe lautete, zu erkennen, ob der zweite Ton höher oder tiefer liegt als der erste – und, ob der zweite vor oder nach dem deutlich höheren Marker-Ton einsetzt. Von besonderem Interesse hierbei war, ob der zeitliche Verlauf (Hüllkurve) der Töne Auswirkungen auf die Genauigkeit der Analyse hat. Falls das Gehör wie ein üblicher Fast-Fourier-Transformation (FFT-)-Analyser arbeitet, müsste sich die höchste „Trefferquote“ laut Wahrscheinlichkeitsrechnung bei einer glockenförmigen, gaußschen Hüllkurve einstellen (siehe Diagramm 1) – laut fourierscher Unschärferelation ist es nämlich unmöglich, bei einer punktuellen, also unendlich kurzen Auswertung der Schalldruckänderung die dazugehörige Frequenz zu ermitteln.

Zeit ist Klang Diagramm LowBeats Gaußsche Hüllkurve 440 Hertz
Diagramm 1 zum Thema „Zeit ist Klang“: Zweikanalige Darstellung eines 440-Hertz-Tones mit glockenförmiger, gaußscher Hüllkurve (Diagramm: LowBeats)

Das Ergebnis war einigermaßen überraschend: Nicht nur, dass die Versuchspersonen die Tonhöhen-Differenzen erstaunlich genau detektieren konnten – auch gelang das bei Hüllkurven mit schneller Anstiegszeit (siehe Diagramm 2) ebenso gut wie bei Hüllkurven mit gaußschem Verlauf: Und das sogar bis zu 10 mal exakter, als es nach der Fourier-Analyse eigentlich möglich wäre. Die beiden Wissenschaftler führen dieses Phänomen auf die Spiralform und die nichtlinearen Eigenschaften der Hörschnecke (Cochlea) zurück: Diese dienen offensichtlich dazu, die zeitliche Präzision der Gehörs zu steigern.

Zeit ist Klang Diagramm LowBeats 440hz-notelike-web
Diagramm 2: Zweikanalige Darstellung eines 440-Hertz-Tones mit Noten-ähnlicher Hüllkurve. Die kurze Anstiegszeit (attack time) reicht dem Gehör zur sicheren Tonhöhenbestimmung bereits aus. (Diagramm: LowBeats)

Zeit ist Klang

So zeigten sich die beiden Forscher denn auch besonders beeindruckt, wie treffsicher die Aussagen der Testpersonen in zeitlicher Hinsicht waren. Das ist in der Tat bemerkenswert, denn bislang neigten Physiker eher zur Ansicht, dass sich das Gehör überwiegend am Frequenzspektrum orientiert: Dieses ist jedoch zeitunabhängig, während sich, wie die Ergebnisse zeigen, das Hören vorrangig an schnellen Transienten orientiert.

Als Beweis für diesen Sachverhalt findet sich im Beitrag von Julian David ein dreiteiliges, sehr eindrucksvolles Hörbeispiel aus dem Film „Casablanca“: Im ersten Teil hört man den legendären Dialog zwischen Miss Ilsa und dem Pianisten Sam „Play it once, Sam…“ – der zweite Teil weist das exakt gleiche Tonspektrum auf, ist jedoch durch das Verschleifen aller Transienten absolut unverständlich. Der dritte Teil hingegen besitzt ein gegenüber dem Original völlig verändertes Tonspektrum, bewahrt jedoch die Form der Transienten: Man versteht nicht nur jedes Wort perfekt, sondern erhält auch ein klares Abbild über das herrschende Szenario.

Doch weshalb nun dieser Beitrag in einem Blog, der eigentlich „Dem Digitalklang auf der Spur“ heißt? Meiner Ansicht nach könnte er nirgendwo passender stehen, bildet doch die Fourier-Transformation eine der wesentlichen Grundlagen digitaler Audiotechnik. Was aber, wenn wie hier gezeigt, das Ohr offensichtlich noch erheblich genauer arbeitet? Sicherlich ist Digital Audio damit nicht prinzipiell hinfällig: Allerdings sollte man sich bei der technischen Einschätzung von Digital-Equipment definitiv nicht auf die übliche Darstellung von Frequenzspektren, also die Amplitudenfrequenzgänge, stützen, wie das noch immer gang und gäbe ist. Viel wichtiger ist meiner Ansicht nach die Dokumentation des Impulsverhaltens – besonders im Hinblick auf die sehr unterschiedlichen, zum Einsatz kommenden Digitalfilter (von Frequenzweichen in Lautsprechern mal ganz zu schweigen). Und was das anbelangt, deckt sich die Arbeit von Oppenheim und Magnasco absolut mit (nicht nur) meinen Hörerfahrungen: So habe ich in vielen Versuchsreihen zum Thema Zeit ist Klang immer wieder festgestellt, dass diejenigen Filter mit dem besten Einschwingverhalten auch am natürlichsten klingen – weil sie die gehörmäßig kritischen Transienten offenbar am besten wiedergeben.

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Autor: Jürgen Schröder

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Toningenieur, R&D-Spezialist und das (mess-)technische Gewissen von LowBeats. Kümmert sich am liebsten um Wissens-Themen, Musik und den spannenden Bereich zwischen Studio und HiFi.