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Steven Wilson war Botschafter der HIGH END 2019. Sein neues Album „The Harmony Codex“ ist eines der musikalischen Highlights des September 2023

Monatsrückblick: Die musikalischen Highlights des September 2023

Die LowBeats Rubrik „Album der Woche“ ist schön und tiefschürfend, aber leider nicht ausreichend. Jeden Monat erreichen uns sehr viel mehr spannende Neu-Veröffentlichungen, die es verdient hätten, vorgestellt zu werden. Das machen wir in einer Art Monatsrückblick: Unter der Rubrik „die musikalischen Highlights des Monats“ geben wir eine Übersicht, was aus dem Vormonat musikalisch unbedingt zu beachten ist: Musik, die – über alle Stilrichtungen und Genres hinweg – fabelhaft, virtuos, meisterhaft ist oder einfach unschlagbar charmant klingt. Und so bot auch der neunte Monat des Jahres wieder so einiges: Ein Rückblick auf die musikalischen Highlights des September 2023.

Als da wären:

♦ Steven Wilson gibt sich solo die Ehre – mit dem klangstarken Album „The Harmony Codex“

♦ Das Gitarren-Duo Erkin Cavus & Reentko Dirks inszeniert mit ihrem akustischen Konzeptalbum „Ütopya“ eine zart-besaitete Vision vom Istanbul der Zukunft

♦ Chilly Gonzales, der studierte Jazz-Pianist aus Kanada, transformiert verschiedene Stile – und gibt sich auf „French Kiss“ ironisch-frech frankophil

♦ Neues von den Marleys – und Eric Clapton: Stephen, zweiter Sohn des Reggae-Helden Bob, schmeißt mit „Old Soul“ einen smarten, chilligen Nostalgie-Trip, mit „Slowhand“ an der Gast-Gitarre

Die musikalischen Highlights des September 2023

Wir starten mit Steve Wilson:

Nur ein Jahr nach dem Comeback seiner Progressive-Rock-Gruppe Porcupine Tree meldet sich Bandchef Steven Wilson solo mit seinem neuen Album „The Harmony Codex“ zurück. Darin schrieb der rührige Brite und Highend-Fan – Wilson übernahm 2019 das Amt des Markenbotschafters der Weltmesse des Klangs – seine sehr private, intime Sichtweise auf menschliche Wendungen, Wirrungen, Politik und Psyche. Das klingt erstmal etwas anders als die IQ-Prog-Rock-Musik von Porcupine Tree. Teils sehr subtil, facettenreich, ausufernd soft – verortet im musikalischen Spannungsfeld zwischen Pop, Singer-Songwriter, Jazz, Prog-Rock, Jazz, World Music und elektronischem Ambiente. Eine vielschichtige Komposition.

Klar, dass Wilson für die Aufnahmen auch wieder selbst an den Reglern saß, schließ (re-)mastert er ja auch ständig Alben anderer MusikerInnen und kennt sich tontechnisch bestens aus. Auch weil er zum Beispiel für sein Album „The Raven That Refused To Sing“ bereits 2013 mit Mega-Mastermind Alan Parsons als Co-Produzent gemeinsame Sache machte und diesen damals auch an der Gitarre favorisierte. Hier fährt er nun teils auch klassisches Besteck auf, melancholisch eingebettet mit Drama, Fortissimo und Crescendi nebst minimalistischen Passagen, unweit von Kollegen wie Rush oder Yes. Aber nein – wenn Assoziationen, dann natürlich à la Porcupine Tree …

„The Harmony Codex“
Steven Wilson mit seinem Klasse-Album „The Harmony Codex“ erscheint bei Virgin als CD oder Doppel-LP sowie als Blu-ray (HiRes-Stereo, 5.1, Dolby Atmos) sowie als Stream oder Download (Cover: Qobuz)

Er wolle eine Platte machen, die in die Irre führt, die fast verwirrt und auch dadurch überraschen könne. Ja, kann man teils so sagen. Und das durchaus positiv, als gelungene Weiterführung seiner stiloffenen Solopfade. In puncto Klang gibt es Wilson-gemäß sowieso nichts zu meckern: Sehr transparent, mit toller Auflösung, raumgreifend und feindynamisch klingt sein „Codex“.

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Video: „What Lifes Brings“

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Das Gitarren-Duo Erkin Cavus & Reentko Dirks mit ihrem akustischen Konzeptalbum „Ütopya“

Was für eine schöne Idee: Die Vergangenheit und mögliche Zukunft einer Metropole retrospektivisch und visionär musikalisch zu interpretieren. 2021 inszenierten die Gitarristen Erkin Cavus und Reentko Dirks mit „Istanbul 1900“ einen subtilen Klangkosmos mit schillernden Saitenakzenten. Nun erforscht das Duo die Zukunft der Megacity am Bosporus.

Wie macht man sowas, wie funktioniert das akustisch mit Musik „urbane Verkehrsströme“ oder Renaturierungen umzugestalten, öffentliche Räume freundlicher, bewohnbarer zu machen? Herzerfrischende Ideen haben die beiden dazu konzeptionell ja – Baumhäuser sollen Kaufhäuser ersetzen oder: „im Flughafen entsteht eine öffentliche Bibliothek“ und im „ehemaligen Präsidentenpalast eine Handwerksschule“.
Für die akustische Umsetzung bauen sie wieder auf ihre überaus feingliedrigen, finessenreichen Details und dichte Atmosphäre ihrer akustischen Instrumente. Zum anderen auf den Support von GastmusikerInnen mit spannenden rhythmischen Beigaben. Dabei brechen sie gerne die Verläufe von Stücken mit variierenden Metren „von 5/4 über 5/8 und 9/8 bis 10/8“.

„Ütopya“
Erkin Cavus & Reentko Dirks mit „Ütopya“ erscheint bei Traumton als CD oder LP sowie als Stream oder Download (Cover: Qobuz)

Gitarren und Piano scheinen sich im Stil teils etwas vor der iberischen Halbinsel zu verneigen, wenige Takte später wähnt man sich aber wieder am Bosporus, angereichert mit dezenter Jazznote. Wie „1900“ wieder ein wunderbares Album zum Chillen und Genießen in feinem Klangbild.

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Das Gitarren-Duo im Video:

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Chilly Gonzales mit „French Kiss“

Oh-lala, wen haben wir denn da? Den kanadischen Jazz-Pianisten brachten seine teils subtilen Solowerke, aber auch sein Faible für Neoklassik und Entertainment in viele Philharmonien dieser Welt. Aber auch Teamworks mit KollegInnen wie Feist, Jarvis Cocker oder gar Helge Schneider ließen aufhorchen.

Und nun, „küsst“ Jason Charles Beck alias Chilly Gonzales auch noch „in der Sprache von Molière“, mit gewitzten, ironischen Wortkaskaden, spielerischen Vokaleinsätzen oder kammermusikalisch-minimalistischen Einsätzen („Lac Du Cerf“). Mon Dieu: Wenn das der freche Zappa noch hören könnte. Und sehen: Man gucke nur seine aktuellen Videos zum Album auf YouTube an, wie das vieldeutige, kurz-pointierte „Il Pleut Sur Notre-Dame“ (Link siehe unten).

Gonzales
Chilly Gonzales mit seinem Album „French Kiss“ erscheint bei Gentle Threat als CD oder LP sowie als Stream oder Download (Cover: Qobuz)

Nein, er veräppelt die Franzosen nicht. Naja. Vielleicht schon – aber mit einem sympathischen Augenzwinkern, schließlich stellte er 2018 mit dem hymnischen Hit „Smothered Mate“ den Soundtrack in puncto WM-Sieg der französischen Fußballnationalmannschaft. Und immerhin beherrscht er ja die Worte, die Amtssprache seiner Heimatstadt Montreal ist Französisch. In diesem Sinne: Viel Spaß auf ein vielfältig-heiteres musikalisches Abenteuer, das hier und da an die Machart eines Frank Zappa oder Helge Schneiders erinnert. Nur eben vielleicht etwas klassischer angehaucht, zudem in tollem Klangbild.

 

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Hier ein kleiner Appetithappen:

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Stephen Marley, zweiter Sohn des Reggae-Helden Bob, veranstaltet mit „Old Soul“ einen smarten, chilligen Nostalgie-Trip

Oft fällt der Apfel ja nicht weit vom Stamm. Kein Kunststück, wenn man das Früchtchen eines Reggae-Big-Apples wie Bob Marley ist, genauer gesagt, sein zweiter Sohn. Stephen wuchs so in der Königsklasse des Reggae auf. Das prägt. Und ist gut so: Denn warum sich verbiegen, wenn man auf dem bereiteten hippen Boden neu aussähen kann – nicht 1:1 wie der Daddy, aber doch im rhythmischen Grundduktus, sanfter, differenzierter, folkiger, mit HipHop gewürzt. Und mit einer eigenständigen sympathisch angerauten Stimme, die mittlerweile auch schon 51 Lenze zählt und achtfach Grammys ersungen hat.

Und so geriet „Old Soul“ einerseits zum privaten Familien-Nostalgietrip. Andererseits entstand ein teils zauberhaftes Album mit feinen Schattierungen und Oldschool-Anklängen, inklusive Coverversionen von den Beatles („Don’t Let Me Down“) oder Ray Charles mit „Georgia On My Mind“. Dazwischen tummeln sich relaxte, auch Singer-Songwriter-artige Songs, unaufgeregt, teils mit Westcoast-Touch, mehrstimmigen Vocals, akustischen Gitarren und sanftem Rhythmusflow. Das braucht gar nicht die klischeehafte jamaikanische Sonnenreifung, das könnte auch an anderer Stelle des Planeten entstanden sein.

Stephen Marley
Stephen Marley mit „Old Soul“ erscheint bei Universal als CD oder Doppel-LP sowie als Stream oder Download (Cover: Qobuz)

Eine Coverversion lässt besonders aufhorchen: „I Shot The Sheriff“, einst genial als Remake-Hit in Szene gesetzt von „Slowhand“ Eric Clapton. Und wer zupft bei diesem Song, im Original von Papa Marley und seinen Wailers 1972 auf das Album „Burnin’2 gebrannt, an der Lead-Gitarre? Eben Eric. Zusammen mit KollegInnen wie Bob Weir (Grateful Dead) oder Jack Johnson bereichert Mister „Slowhand“ das Album „Old Soul“ als illustrer Gast. Das hat was. Ebenso wie der recht farbechte, fein aufgelöste Klang. Cool, man.

Bewertung
Stephen Marley „Old Soul“
2023/10
Test-Ergebnis: 4,2
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

Weitere musikalische Monats-Rückblicke:

Monatsrückblick: die musikalischen Highlights des August 2023
Monatsrückblick: Die musikalischen Highlights des Juli 2023
Monatsrückblick: Die musikalischen Highlights des Juni 2023
Monatsrückblick: die musikalischen Highlights aus dem Mai 2023
Monatsrückblick: die musikalischen Highlights aus dem April 2023

Autor: Claus Dick

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Musikfachmann seit Jahrzehnten, aber immer auch HiFi-Fan. Er findet zielsicher die best-klingenden Aufnahmen, die besten Remasterings und macht immer gern die Reportagen vor Ort.