Lange Zeit etwas abschätzig betrachtet, entwickelt französisches HiFi/High End in den letzten Jahren auch bei der Elektronik eine erstaunliche Zugkraft. Man könnte sagen: en marche! Devialet, Micromega und nicht zuletzt Atoll sorgen für richtig viel Bewegung im Markt. Nachdem wir kürzlich den DAC/Streaming-Amp Micromega M One 100 feiern konnten, haben wir uns nun mit dem Vollverstärker Atoll IN 300 einen eher klassischen Vertreter der neuen französischen Power-Generation vorgenommen.
Meine Güte, ist der schwer. Die 17 Kilo des Atoll IN 300 sind ein Machtwort. Die meisten Vollverstärker seiner Klasse sind deutlich leichter. Wie kommt’s? Es ist zum einen das ausgesprochen solide Gehäuse mit der fast 5 Millimeter starken Aluminium-Front. Sie ist dick genug, dass die Franzosen dort eine optische Welle haben einfließen lassen können.
Aber erst der Blick unter die Haube zeigt die ganze Wahrheit: Hier waltet nicht nur ein Ringkerntrafo seines Amtes, sondern deren zwei. Gleich hinter dem Frontdisplay beginnt der Kraftweg. Ganz salopp formuliert: Wir könnten eine Kettensäge nehmen und den Atoll IN 300 in der Mitte aufteilen – das Gesamtbild der Schaltungen ist überaus symmetrisch. Das ist bestes, doppeltes Mono-Layout.
Hinter den identisch großen Ringkerntrafos steht ein ganzer Wald aus Kondensatoren und stabilisiert die beiden Netzteile. Die Kondensatoren sind vom Feinsten und stammen von Mundorf und Vishay.
Die Kraft kommt von MosFETs, die für einen substanziellen, warmen Klang stehen und die Atoll mit jeweils einem eigenen Kühlköper versieht. Das sieht bildschön aus, ist aber absolut notwendig: Schon nach kurzer Zeit werden sie richtig warm. Hier hat sich jemand einen Kopf gemacht und sehr genau darüber nachgedacht, wie ein Vollverstärker der Moderne aussehen kann.
Hinter dem Konzept stehen die beiden Brüder Stefane und Emmanuel Dubeuil. Gedacht und gefertigt wird da, wo Asterix die freie Welt verteidigt – in Gallien.
Schöner kann ein doppelter Mono-Aufbau nicht aussehen. Funktional stehen wir vor einem Amp, der die Vorstufe in einem Class-A-Aufbau belässt und für die Leistung eine Class-A/B-Stufe hinterher schiebt. Nominell stehen 150 Watt an acht Ohm zur Verfügung. Wir haben experimentiert: Einen Lautsprecher, den dieser Amp nicht anzutreiben vermag, haben wir nicht gefunden.
Auch das Bedienlayout überzeugt. An der Front gibt es nur zwei Drehknöpfe für die bekannten Aufgaben: Auswahl der Quelle und Lautstärke. Die Details dazu werden von einen herrschaftlich-brillanten OLED-Display wiedergegeben. Wer die schöne Einfalt sucht, hier wird er fündig. Der Blick auf die Rückseite zeigt die Gegenwelt: Insgesamt fünf analoge Cinch-Eingänge können hier verwaltet werden, dazu noch ein symmetrischer XLR-Eingang.
Darüber hat Atoll einen Baustein mit unterschiedlichen Digital-Eingängen gruppiert. Wir kommen in den Amp über zwei koaxiale und zwei optische Eingänge hinein.
Zudem gibt es eine USB-Schnittstelle, die bis 32 Bit und 384 Kilohertz feinrastern kann. Das ist die Champions League der digitalen Ausbeute. Als ob dies noch nicht genug wäre, gibt es noch DSD bis 5.6MHz (DSD128) obendrein.
Damit ist man auch für die Zukunft gut gerüstet. Dazu hätten wir noch eine Kleinigkeit: Der Atoll IN 300 bietet einen Zugang per Bluetooth an. Simpler und eleganter kann beispielsweise ein Smartphone nicht in die Klangkette eingefügt werden. Einfach den Atoll per Bluetooth als Klangquelle auswählen – und die Musik ertönt. Das ist die Moderne der Musikwiedergabe.
So perfekt es sich anhört – eine Fraktion der Fans hat Atoll vergessen. Scheinbar. Was machen die Vinyl-Anhänger? Sie müssen nicht verzweifeln. Atoll hat ihnen einen Steckplatz freigehalten. Hier kann wahlweise ein MM- oder MC-Board angedockt werden.
Fazit bis hierher: Klassischer und vielfältiger kann ein moderner Vollverstärker nicht konzipiert werden, bravo.
Der Atoll IN 300 im Hörtest
Man traut ihm viel zu. Auch das neue Remastering von Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band. In den Abbey-Road-Studios durfte Giles Martin, der Sohn des legendären Beatles-Produzenten George Martin, an den Original-Master-Bändern werkeln.
Das Ziel: Die Beatles hatten ihr Aufnahmen zumeist in Mono gehört und aufbereitet, der damalige Stereo-Mix war nur ein Nebenprodukt. Giles Martin sollte das perfekte Stereo-Master entwerfen. Und es ist ihm gelungen. Das klingt ebenso sinnig wie frisch.
Ein moderner Vollverstärker muss hierfür vor allem eines mitbringen: Tempo – und das hat der Atoll IN 300 in hohem Maß.
Beispielsweise in „Within you, without you“, da braucht es Drive, um die Sitarklänge hell und offen an die Membranen zu bringen. Der Atoll hat es. Und mehr noch: Da lebte in unserem Test jeder Ton mit feinem Druck auf.
Genau das sind die beiden Worte, die den IN 300 am besten beschreiben: Drive und Druck. Das wird zum audiophilen Erlebnis, beispielsweise in „A Day in the Life“ – die Menge der Feininformationen, die die Beatles hier angehäuft haben, ist phantastisch. Der IN 300 spielte sie alle aus. Ein großartiges Mastering, ein großartiger Verstärker.
Wie hält er es mit schwerer Orchestermusik? Wir haben eine unserer Lieblingsaufnahmen ausgesucht: Lorin Maazel dirigiert die Wiener Philharmoniker in den gesammelten Symphonien von Jean Sibelius. Die Decca-Tonmeister haben das in den 60er Jahren prachtvoll aufgenommen, ihre heutigen Kollegen haben es gerade frisch in die digitale Welt gehoben.
Das Remastering klingt blendend und ist zudem auch in High-Res auf Blu-Ray-Audio zu haben – Wahnsinn: alle Symphonien hochauflösend auf nur einer Scheibe. Ein nur auf Kraft trainierter Vollverstärker kommt hier nicht weiter.
Er muss das ganz feine Händchen für die dynamischen Entwicklungen haben. Was der Atoll in unserem Test hatte. Das war faszinierend, wie er die großen Phrasen der Streicher auferstehen ließ. Dazu eine gewaltige Ruhe. Der Schwarzwert dieses Amps ist enorm hoch, die Kontraste herrschaftlich.
Das tut der Sibelius-Musik enorm gut. Die Weite der symphonischen Bögen, dazu die strahlenden Blechbläser – wir hätten im Blindtest ohne Probleme auch eine stattliche Vor-End-Kombi hinter dem Atoll IN 300 vermutet.
Zum Finale noch ein Tipp: Beim kleinen Label Stockfisch ist eine herausragende Platte erschienen. Die CD klingt fantastisch, die LP noch besser: Christian Kjellvander singt live seine eigenen Songs und begleitet sich auf der Gitarre. Das ist die ganz kleine, ganz große Kunst.
Allein der Song „The Valley“ hat das Zeug zum Hit. Der Atoll machte ein Fest daraus. Das war unsagbar lecker, wie die angerissenen Saiten das Trommelfell erreichten – hochdynamisch, rund, stimmig, kraftvoll. Dazu der Bariton des Sängers – das hatte Lungenvolumen und den feinen Samt auf den Stimmbändern.
Wir haben natürlich auch quergehört und verglichen. Im konkreten Fall mit dem Musical Fidelity M5si, der bei rund 2.000 Euro liegt, mit verwandter Kraft protzen kann und bei LowBeats der Maßstab der 2.000 Euro Klasse ist. Trotz des Preisunterschiedes ist der Vergleich statthaft – immerhin hat der M5si kein Digitalboard.
Und er ist im Grundkonzept nicht so stringent auf einen doppelten Mono-Aufbau ausgelegt wie der Atoll IN 300. Klanglich gibt es dennoch eine hohe Verwandtschaft, beide lieben Druck und Drive.
Dennoch klingt der Atoll das berühmte Quäntchen audiophiler – dank seiner besseren Auflösung des feindynamischen Geschehens immer einen Hauch müheloser.
Fazit: Der Atoll IN 300 ist ein ganz Großer seiner Bauart
So muss man Vollverstärker bauen. Der Atoll IN 300 hat im besten Sinne etwas Unerbittliches. Er ist straight gebaut und klingt ebenso – nirgends Speck oder verschenkte Energie.
Besonders sein Umgang mit feindynamischen Informationen fasziniert. Dazu gibt es Kraft satt und vor allem eine Ausstattung, die ihn zum Zentrum einer modernen, zugleich hoch ambitionierten HiFi-Anlage macht.
Bewertungen
KlangPraxisVerarbeitungGesamt |
Die Bewertung bezieht sich immer auf die jeweilige Preisklasse. |
| Überaus natürlicher, feindynamischer Klang |
| Hohe Leistungsreserven |
| Eingebauter DAC, Bluetooth-Empfänger |
| Perfekte Verarbeitung |
Vertrieb:
AUDIUM / Visonik
Catostr. 7b
12109 Berlin
www.audium.com
Preis (Hersteller-Empfehlung):
Atoll IN 300: 2.800 Euro
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