LowBeats Jahres-Highlights Juli: Christof Hammer – Spiritualized And Nothing Hurt
Weihnachten und die letzten Tage von 2018: Die Schlachten des zurückliegenden Jahres sind geschlagen, die des nächsten sind noch ein wenig entfernt – Zeit, durchzuatmen, Zeit für Besinnlichkeit und Zeit, um zu beichten. Ja, dieses Album fehlte tatsächlich bei all den übers Jahr zusammengetragenen CDs der Woche. Aber: eine CD pro Woche, da fällt die Auswahl schwer, nicht alles ist gleich im Fokus – und dann ist es auf einmal zu spät. Nun aber wird damals Versäumtes nachgeholt und das Album des Sommers nachträglich geadelt.
Auch Heaven And Earth, das (vorläufige) opus magnum des neuen Jazz-Gottes Kamasi Washington könnte übrigens an dieser Stelle stehen, oder The Thread The Keeps Us (das LowBeats Album der KW 5), das früh im Jahr erschienene Werk der nach wie vor umwerfend guten Americana-/Tex-Mex-Kapelle Calexico. Warum letztlich also And Nothing Hurt? Auf faszinierende und formvollendete Weise kommt mit dem achten Spiritualized-Album quasi ein Ding aus einer anderen Welt herangeschwebt.
Als Astronaut zeigen das Cover und das – sehr aufwendige und liebevolle – Booklet von And Nothing Hurt den Band-Mastermind Jason Pierce. „Houston, wir haben ein Problem“, funkt zu derlei Motiven das Unterbewusstsein von älteren HiFi- und Musikfreunden; Sie wissen schon: das Drama um die amerikanische Mondmission Apollo 13. Damals, im April 1970, bangte die halbe Menschheit um das Leben dreier US-Astronauten.
Ein Problem hat auch die klassische Rockmusik. Es ist still geworden um dieses Genre, wie eine abgewrackte Rakete liegt sie auf dem Friedhof der Musikgeschichte, während Techno, R&B, HipHop, EDM und sonstige Amüsiermusiken auf ihrem Grab tanzen. Wie ein Friedhofswächter streift Pierce nun über diesen Gottesacker, schubst die Emporkömmlinge der „Hauptsache, wir haben Spaß“-Generationen vom Hof und huldigt mit einem neun Songs starken Werk jenem Genre, das die Popularmusik ab Mitte der Sechzigerjahre in neue Umlaufbahnen beamte – Led Zeppelin, die Doors, Velvet Underground, die Stones, Sie wissen schon. Auch Brüdern im Geiste aus Folk (Bob Dylan) oder Blues (Van Morrison) ist dieses Gedenkbouqet gewidmet, das als angemessen würdevolles, wunderbar vitales und wärmend melancholisches Soundpanoptikum begeistert.
Los geht’s mit „A Perfect Miracle“ und mit beschaulichen, beglückend verwunschenen Tönen: analoge Keyboards, ein bisschen Gezupfe auf einem Banjo, ein ultralangsamer Walzerrhythmus. Und zwischendrin geht immer wieder die Sonne auf, und zwar volles Kanonenrohr: Ein riesiges Orchester mit Bläsern, Streichern, Glockenspiel und Gospelchor stellt die Weichen fast Richtung Weihnachtsmusik, auch eine E-Gitarre darf ab und an ein wenig randalieren.
Auch „I’m Your Man“ hält das Tempo niedrig, täuscht zunächst vor, eine Ballade zu sein, streichelt die Seele, um dann resolut die Ellbogen auszufahren und Schicht für Schicht Soul und Rock aufzutragen.
Und wären die Stones junge Kerle – oder wäre Pierce ein paar Jahrzehnte früher geboren –, es würde klingen wie der erste Teil von „The Morning After“. Aber Achtung: Wie eine Wurlitzer-Jukebox, die gerade einen 10.000-Volt-Stromschlag abbekommen hat, explodiert dieser Song nach knapp drei Minuten und mutiert zu einem furiosen Orkan zwischen Blues, Psychedelic-Rock, Free-Jazz und Feedback-Getöse der Premiumklasse. Von ähnlichem Kaliber: „On The Sunshine“, bei dem sich zum Finale ein amoklaufendes Saxophon mit einer bluesigen Harmonica und rüden Orgel- und Saitensounds duelliert.
„Damaged“ und „The Prize“ erinnern mit ein bisschen kosmischem Flirren, balladesker Psychedelik und symphonischer Orchestrierung dann an weitere Fixsterne im großen Rock- und Pop-Universum: Brian Wilson, Jeff Lynne, Tom Petty. Mit „Sail On Through“ endet schließlich alles so, wie es begonnen hat. Wir hören Glockenspiel, Gospelchor, Gitarrenkräuseln, Morsezeichen – und Funksprüche im Geist der Liebe, gesendet als SOS-Botschaften einer vom Kurs abgekommenen Seele kurz vor dem Absturz und doch von versöhnender Kraft und Zuversicht.
So ehrt dieser mal besinnliche, mal brachiale 48-Minuten-Trip den Rock der Vergangenheit gleichermaßen als jugendlichen Revolutionssoundtrack wie auch als berührende Durchhaltemusik für die Beinahe-Best-Ager. Denn auch der einstige Psychedelic-, Space- und Artrock-Bengel aus dem englischen Rugby ist inzwischen in seinen Fünfzigern angekommen. 53 Jahre alt wurde Jason Pierce unlängst und natürlich und hoffentlich hat er mit And Nothing Hurt noch längst nicht seine „famous last words“ geschrieben. Aber eine Disc produziert, die sich dem Wesentlichen widmet, tief gründelt, Wehmut und Wut gleichermaßen atmet, rebellisch und melancholisch zugleich klingt. Genau deswegen also steht diese Aufnahme an dieser Stelle: das essentiellste Rockalbum seit langem und eine wohlverdiente CD des Jahres 2018.
Spiritualized And Nothing Hurt erscheint bei Bella Union / PIAS im Vertrieb von Rough Trade und ist erhältlich als CD, LP und Download
Die anderen LowBeats Jahres-Highlights 2018:
Januar: Andreas Günther über den Plattenspieler Rega Planar 6 (Seite 1)
Februar: Peter Schüller über die Vorstufe Questyle CMA800P (Seite 2)
März: Bernhard Rietschel über die Standbox Heco Einklang (Seite 3)
April: Holger Biermann über den Rundumstrahler Nubert nuPyramide 717 (Seite 4)
Mai: Andrew Weber über die Komplettanlage Teac NR-7CD (Seite 5)
Juni: Stefan Schickedanz’ Fahrt mit dem Volvo P1800 Schneewittchensarg (Seite 6)
August: Claus Dick über das Tischradio Teufel 3Sixty (Seite 8)
September: Raphael Vogt über den Stromfilter LAB12 Gordian (Seite 9)
Oktober: Holger Biermann über den 300B-Röhrenamp Westend Audio Leo (Seite 10)
November: Frank Borowski über den Streaming-Amp Linn Selekt DSM (Seite 11)
Dezember: Jürgen Schröder über den Kopfhörer Sennheiser HD 660 S (Seite 12)